Gedanken zum Sonntag / Judika

Wochenspruch: Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gbe sein Leben als Lösegeld für viele.
Matthäus 20,18

 

Predigttext für den Sonntag Judika (5. Sonntag der Passionszeit), 29. März 2020

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Hebräer 13, 12-14

 

„Lasst uns hinausgehen!“ – Nur zu gern würden die meisten diesem Aufruf folgen: Endlich wieder gemeinsam vor die Tür, entspannt einkaufen, die Kinder auf den Spielplatz schicken, mit einem Kaffee in der Hand am Rand sitzen und ein bisschen plaudern. Über den Beginn der Osterferien vielleicht, über Reisepläne und Besuche bei den Großeltern. Doch von dieser Normalität sind wir weit entfernt. Soziale Kontakte sind beschränkt, Geschäfte und Gastronomie sind noch immer geschlossen. Social Distancing bleibt das Gebot der Stunde. Also bleiben wir drinnen, dort, wo es sicher ist. Und lesen hinter verschlossenen Türen einen alten Text, der zum Aufbruch mahnt: Lasst uns hinausgehen! Wir haben hier keine bleibende Stadt.

Mit dem Sonntag Judika fängt nach alter Ordnung die eigentliche Passionszeit an. Nur noch eine Woche bis zum Beginn der Karwoche. Die Leidenszeit Jesu kommt in den Blick – und damit alles, was das Leben bedroht, verächtlich macht und zerstört. In diesem Jahr kommt die bange Frage dazu: Wie werden wir diese stillen Tage in einer ohnehin schon stillen Stadt erleben? Wie wird es sein, ohne Gemeinschaft im herkömmlichen Sinn, ohne Abendmahl, ohne Gottesdienst in der gewohnten Form? Und, vielleicht die bängste Frage von allen: Erinnern wir uns dann an das Leid Jesu? Oder tragen wir zusätzlich eigenes Leid?

An die, die solche bangen Fragen stellen, an die Erschöpften, an die mit müden Händen und mit wankenden Knien (Hebräer 12,12) richtet sich die Aufforderung des Hebräerbriefes. An all die, die drinnen sind und etwas spüren von dem, was da draußen ist: der diffusen Gefahr eines Virus. Von der Bedrohung, die von körperlicher Nähe ausgehen kann. Von der Sorge um die Gesundheit, um die wirtschaftliche Existenz. Gerade die Müden, gerade die Wankenden sollen mit hinauskommen, vor die Tore der Stadt. Denn da draußen hat Jesus gelitten; so war es damals üblich. Nur wenige sind bis zum Ende mitgekommen und bei ihm geblieben, viele haben sich schon vorher zurückgezogen. Er ist allein mit seinem Schmerz und seiner Angst, er teilt die Erfahrungen, verlassen zu sein und sogar an dem zu zweifeln, der doch eigentlich alles zum Guten wenden kann. Seine Schmach tragen sollen wir da draußen: Nicht die Augen verschließen vor dem, was uns gerade das Leben schwer macht, nicht verzweifeln, sondern auf den schauen, der alles kennt, was das Leben bedroht. Und der es ausgehalten hat. Die Erzählungen von dem Leid, durch das einer hindurchgegangen ist, der am Ende alles überwunden hat, die entfalten in dieser Passionszeit eine besondere Kraft.

Noch sind wir drinnen. Aus guten Gründen, zu unserem Schutz und zum Schutz aller, die mit uns leben. Es gibt viele Wege, um auch in der sozialen Distanz nicht einsam zu sein – auch wenn es nicht immer und nicht für alle einfach ist. Wir bleiben verbunden über WhatsApp und FaceTime, schicken einander Fotos und gute Gedanken, unterstützen die, die Hilfe brauchen. Wir legen Gott im Gebet und in der Fürbitte unsere Sorgen ans Herz. Und in den stillen, den einsamen Momenten gehen wir mit ihm hinaus und er mit uns – an die Orte in uns und in unserer Welt, die bedrohlich sind, die uns Angst machen. Er geht mit hindurch.

Noch sind wir drinnen. Aber wenn die Gefahr vorüber ist, dann machen wir die Türen weit auf und öffnen die Grenzen. Denn hinter versperrten Türen und geschlossenen Grenzen haben wir keine bleibende Stadt. Diese Stadt wird nicht so bleiben wie sie ist, leer und still. Wir warten auf die Stadt, die wieder offen ist und frei, in der wir einander begegnen können, in der die Kirchen wieder offen sind. Und wir hoffen auf die zukünftige, die uns verheißen ist.

Pastorin Henrike Müller