Wochenspruch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Johannes 12,24
Lesung zum Sonntag Laetare (4. Sonntag der Passionszeit), 22. März 2020
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.
Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.
Werden wir aber bedrängt, so geschieht es euch zu Trost und Heil; werden wir getröstet, so geschieht es euch zum Trost, der sich wirksam erweist, wenn ihr mit Geduld dieselben Leiden ertragt, die auch wir leiden.
Und unsre Hoffnung steht fest für euch, weil wir wissen: Wie ihr an den Leiden teilhabt, so habt ihr auch am Trost teil.
2. Korinther 1, 3-7
Die Kirche bleibt heute geschlossen. Das Gemeindehaus ist schon seit Anfang der Woche verwaist. Keine Gottesdienste mehr bis mindestens 18. April, keine Treffen von Gruppen und Kreisen. Was gestern noch normal war, ist heute Vergangenheit. Und was wir uns gestern kaum vorstellen konnten, ist heute unsere Zukunft. Für wie lange? Wir wissen es nicht – und ahnen, dass unser Leben für viele Monate nicht mehr so sein kann, wie wir es kannten.
Beim Bäcker und an der Supermarktkasse stehen wir mit zwei Meter Abstand an. Das ist nicht nur ungewohnt, es fühlt sich auch falsch an. Und bleibt nicht ohne Folgen. Denn Nähe, körperliche Nähe, brauchen wir zum Leben wie das Atmen. So kennen wir es: Wer zwischen sich und einen anderen Menschen Distanz bringt, macht deutlich, dass er mit ihm oder ihr nichts zu tun haben will, misstrauisch ist. Tief ist das in unserem Verhalten und unserem Erfahrungswissen verankert.
Abstand als Zeichen von Nähe, ja, von Fürsorge? Das klingt so widersinnig wie es sich anfühlt. Und doch ist es heute wahr. Auch wenn der Kopf zustimmt – das Herz sagt etwas ganz anderes.
Es ist zum Heulen. Denn die Folgen, die das alles hat, können wir bislang nur ahnen. Und was wir ahnen, ist schlimm genug. So schlimm, dass die einen darüber zuerst ihr eigenes Wohl sehen, den anderen aber Kräfte zuwachsen, die sie zum Segen für den Nächsten werden lassen. An Orten, an denen wir früher oft ohne hinzuschauen vorbeigegangen sind. In Berufen, die wir nur selten mit Wertschätzung beachtet haben.
Gerade jetzt, in Zeiten wachsender Not, bräuchten wir die Orte der Hoffnung und des Heils, des Trostes und des Gebetes. Doch die Kirchen sind zu. Die Gemeinschaft der Glaubenden, der Vertrauenden darf sich nicht versammeln und gegenseitig Kraft und Segen spenden. Die Kirche bleibt leer.
Diese Leere müssen wir ertragen lernen. Manchen fällt das leicht, anderen schwer. Und doch ist diese Situation im Grundsatz nicht neu. Gut 20 Jahre nach dem Tod von Jesus versucht der Apostel Paulus zu verstehen, worin seine Nähe zu den Glaubensgeschwistern in Korinth besteht. Körperlich sind sie weit von einander entfernt: Zwischen Paulus, der in der (heute türkischen) Stadt Ephesus im Gefängnis sitzt, und seinen korinthischen Gemeindemitgliedern liegen mehr als 500 km und das Ägäische Meer. Und dennoch spricht Paulus, als sei er ihnen körperlich nah, als sei sein Leben unmittelbar mit dem Leben seiner Glaubensgeschwister in Korinth verbunden.
Seine Bedrängnis ist den Geschwistern in Korinth Trost, sein Leid ihre Hoffnung. Für Paulus liegt der Grund dafür nicht in telepathischen Fähigkeiten oder in einer Übersensibilität der Sinne, sondern in Jesus Christus. Er verbindet die Glaubenden auch in der Ferne miteinander. Natürlich nicht in menschlicher Gestalt, sondern mit seinem Geist, der in aller Bedrängnis und allem Leiden dem Leben Hoffnung gibt.
Geradezu körperlich ist für Paulus diese geistige Nähe Jesu. Räumliche Entfernung spielt dabei keine Rolle. Mit Menschen, die mir körperlich nahe kommen, muss ich mich nicht verbunden fühlen. Denn einem anderen ganz nahe zu sein, Gemeinschaft mit ihm zu haben, setzt nicht körperliche, sondern geistige und emotionale Nähe voraus.
So widersinnig es sich für uns noch anfühlt: Will ich heute, in Zeiten einer sich verbreitenden Epidemie, einem Menschen meine Nähe zeigen, muss ich andere Zeichen meiner Verbundenheit finden als meine körperliche Nähe. Und wo die Kirchen geschlossen sind, müssen andere Orte zu Räumen des Trostes und der Hoffnung werden.
Für die einen mag es der eigene Balkon sein: Dort vereinen sich um 19 Uhr Menschen zum allabendlichen Balkonsingen mit dem Lied: Der Mond ist aufgegangen.
Für andere ist es das Wohnzimmer – beim Gebet zum Glockenläuten am Sonntagmorgen.
Dritte nutzen Twitter und schließen sich dort beim Twomplet um 7 Uhr morgens und um 21 Uhr abends zu einer Gebetsgemeinschaft zusammen.
Und wieder andere versammeln sich zum Fernseh- oder Radiogottesdienst.
Nein, all das ersetzt nicht die Gemeinschaft, die wir beim Gottesdienst in der St. Nicolai-Kirche oder bei den Treffen von Gruppen und Kreisen erfahren – und doch sind es Möglichkeiten, wie wir in Zeiten einer Pandemie Trost und Hoffnung erfahren können.
Ich wünsche uns, dass wir trotz räumlicher Entfernung von einander Gottes Nähe in uns und miteinander die Gemeinschaft der Christinnen und Christen spüren – in St. Nicolai und weltweit.
Bleiben Sie behütet.
Pastor Dirk Rademacher